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%T Forschungsethik: Arbeitspapier für das Projekt zur Vorbereitung eines Zentrums Prävalenzforschung
%A Kindler, Heinz
%A Müller, Jasmin
%A Rimane, Eline
%P 72
%D 2024
%K Prävalenzforschung
%@ 978-3-86379-512-2
%~ DJI
%> https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-95492-3
%X Forschungsethik wird überwiegend als Teil angewandter Ethik verstanden. Orientiert an Systemen ethischer Prinzipien (z.B. Nützlichkeit, Nicht-Schädlichkeit, Respekt, Vertrauenswürdigkeit, Fairness) werden für Wissenschaft und Öffentlichkeit Empfehlungen für die prinzipielle oder konkrete Ausgestaltung von Forschungsvorhaben formuliert. Forschungsethische Empfehlungen lassen sich nicht als einfache und eindeutige Umsetzung unveränderlicher ethischer Regeln begreifen. Vielmehr ist die Grundausrichtung diskursiv und abwägend, da forschungsethische Prinzipien sich entwickeln und in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen stehen können. Zudem sind unter Umständen externe Umstände (z.B. die verfassungsrechtlich garantierte Forschungsfreiheit oder empirische Befundlagen zu Risiken bestimmter Forschungsmethoden) zu berücksichtigen. Die ethische Diskussion zu Forschung über sexuelle Gewalt ist umfangreich und hat in einigen, aber nicht allen Punkten zu einem hohen Maß an Übereinstimmung geführt. Der Schwerpunkt der bisherigen Diskussion liegt bei Forschungsprojekten, nicht Forschungsprogrammen oder der Organisation von Forschung. Forschung zur Prävalenz sexueller Gewalt zählt relativ unstrittig zu einer gesellschaftsnützigen oder indirekt gruppennützigen Forschung. Gesellschaftsnützig ist die Forschung, wenn sie zur gesellschaftlichen Aufklärung über den Umfang eines relevanten sozialen Problems und die Wirksamkeit gesellschaftlicher Anstrengungen beiträgt. Mittelbar gruppennützig für Menschen, die sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erleiden mussten oder müssen, ist die Forschung, wenn die Folgen gesellschaftlicher Aufklärung Betroffenen zugutekommen. Befunde zu den Risiken einer Teilnahme an Forschung zur Prävalenz sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche deuten darauf hin, dass es sich ganz überwiegend um abstrakte Risiken handelt, d.h. potentielle, sich selten realisierende Risiken. Das forschungsethische Prinzip der Nicht-Schädlichkeit verlangt allerdings unumstritten Vorkehrungen auch gegenüber Risiken, die sich selten realisieren. Für geeignete Vorkehrungen gibt es mehrere, empirisch allerdings kaum evaluierte Vorschläge. Das forschungsethische Prinzip des Respekts ist vor allem auf mittlerweile unstrittige Regeln zur Freiwilligkeit der Teilnahme an Erhebungen fokussiert, wozu auch bei Kindern und Jugendlichen eine informierte Einwilligung zählt. Strittig ist allerdings, ob und unter welchen Umständen zusätzlich eine elterliche Surrogateinwilligung eingeholt werden muss. Dies ist nur über ein Gesetzgebungsverfahren eindeutig zu klären. Die Partizipation Betroffener, die sexuelle Gewalt in Kindheit bzw. Jugend erleben mussten, sowie die Partizipation Teilnehmender kann als Teil gruppenbezogenen Respekts verstanden werden. Einigkeit darüber, in welcher Form Partizipation umgesetzt werden sollte, besteht allerdings nicht. Zudem fehlen hier Erfahrungen. Allerdings könnte eine entwickelte Form von Partizipation zur Qualität von Forschung und ihrer ethischen Güte beitragen. Vertrauenswürdigkeit betrifft die gelingende Umsetzung guter wissenschaftlicher Praxis sowie die Einhaltung von Zusagen, auch im Hinblick auf Vertraulichkeit der von Teilnehmenden gewährten Einblicke. Vertraulichkeit ist allerdings kein absolut einzuhaltender Wert, sodass Notlagen ein Durchbrechen zugesagter Vertraulichkeit rechtfertigen können. Für solche Notlagen haben sich zwei forschungsethisch vertretbare Umgangsweisen herausgebildet, die beide diskutiert werden. Fairness umfasst Aspekte einer angemessen gleichen Zugänglichkeit zur Teilnahme an Forschung und der Nutzbarkeit von Forschungsergebnissen. Die Diskussion forschungsethischer Aspekte der Organisation eines Zentrums, das sich der Prävalenzforschung zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche widmet, betritt weitgehend Neuland. Wird angenommen, dass die genannten forschungsethischen Prinzipien hier ebenso gelten und relevant sind, so ergeben sich mindestens fünf Schlussfolgerungen: (1) Es ist festzuhalten, dass wiederholte Erhebungen den Nutzen der Forschung wesentlich vermehren, da Veränderungen messbar werden und auf gesellschaftliche Entwicklungen sowie politische Maßnahmen bezogen werden können. Damit entsteht eine moderate Form methodischer Pfadabhängigkeit, insofern die Vorteile einer Wiederholungsbefragung nur dann ausgespielt werden können, wenn die Erhebungsmethodik in wesentlichen Teilen unverändert bleibt. Dies fordert (2) zu besonderer Sorgfalt bei der Planung der Forschung auf und gilt auch (3) für belastbare Vorkehrungen zur Abwehr von Risiken aus einer Teilnahme an der Forschung. (4) Die Prinzipien von Respekt und Vertrauenswürdigkeit lassen sich auf die Ebene der Organisation von Forschung transponieren und verlangen Strukturen zur Sicherung von Beteiligung und wissenschaftlicher Integrität. (5) Insofern nicht davon auszugehen ist, dass eine einzelne Prävalenzstudie für alle interessierenden Gruppen zu finanzierbaren Bedingungen Zugänglichkeit zur Forschung garantieren kann, bietet ein Zentrum mit Forschungsprogramm, insbesondere wenn Mischfinanzierung ermöglicht wird, besondere Möglichkeiten zur Realisierung von Fairness.
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%C München
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%9 Arbeitspapier
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